Liegt die Verkehrszukunft der Schweiz unter der Erde?

Sind Tunnels verkehrspolitische Heilsbringer? Ist die Eroberung des Untergrunds Teil einer nachhaltigen und vernetzten Mobilitätsvision? Für Güter sicher, für Menschen oder den Personenverkehr kaum – so der heutige Stand.

10.09.2020

  • Zukunft

In Schweizer Innenstädten gibt’s zu Stosszeiten kein Vorankommen mehr. Und auch auf unseren Nationalstrassen wächst der Verkehr ungebremst weiter, wie das Bundesamt für Strassen ASTRA kürzlich berichtete: Zwischen 2018 und 2019 wurde ein Plus von 100 Millionen Fahrzeugkilometern registriert – bei einem Total von jetzt 27.8 Milliarden Fahrzeugkilometern. Gleichzeitig schätzen Fachleute, dass das Güterverkehrsaufkommen in der Schweiz bis 2040 gegenüber dem Jahr 2010 um 37% zunehmen wird. Es drängt sich daher die Frage auf: Liegt die Lösung in der Tiefe, wo theoretisch unbegrenzter Platz zur Verfügung steht?

Güter per U-Bahn von Genf bis St. Gallen

«Cargo Sous Terrain (CST) gehört zu den innovativsten Verkehrsprojekten der Gegenwart», schreibt David Vonplon auf nzz.ch. «In den nächsten 25 Jahren soll quer durch die Schweiz ein unterirdisches Güterverkehrssystem aufgebaut werden, das Autobahnen und Schiene markant entlastet.» Selbstfahrende Fahrzeuge werden Paletten und Behälter von den Logistikzentren in die Städte transportieren, und das erst noch CO2-frei und zu 100% mit erneuerbaren Energien betrieben. Hinter dem 33-Milliarden-Projekt steht ein privates Konsortium mit potenten Unternehmen wie beispielsweise Coop, Migros, Swisscom, Post, SBB, Mobiliar und Panalpina. Auch die politische Unterstützung für die Güter-Metro steht: Der Bundesrat hat im Januar 2020 beschlossen, die Gesetzesgrundlage für CST zu schaffen. Der Projektfahrplan ist ambitioniert: Bereits in zehn Jahren soll die erste Teilstrecke von Zürich nach Härkingen in Betrieb genommen werden. In Deutschland gibt es mit der «Güter-Rohrpost» CargoCap übrigens ein Projekt mit ähnlichen Ansätzen.

Das Cargo Sous Terrain Fahrzeug wird voraussichtlich in wenigen Jahren im Einsatz sein.
« Tunnels werden für eine Betriebsdauer von mindestens hundert Jahren gebaut. Deshalb sind heute politische Entscheidungen notwendig. »

Personenverkehr noch nicht auf dem Tapet

Während im Güterbereich Visionen, Geldgeber und Gesetzesgrundlagen vorliegen, ist ein Ausbau des unterirdischen Personenverkehrs «noch überhaupt nicht auf dem Tapet», wie Dr. Tobias Arnold, Bereichsleiter Verkehr und Raum beim Luzerner Beratungsunternehmen Interface, erwähnt. «Güter in den Untergrund zu verlegen, ist deutlich einfacher und gleichzeitig akzeptierter, als dasselbe mit Menschen zu tun», ergänzt der Verkehrsspezialist. Ein unterirdischer Individual-Personenverkehr sei «eine ganz andere Nummer» als U-Bahnen als Teil des ÖPNV. Auch jenseits technischer und finanzieller Aspekte ist die Krux dabei, dass Menschen längere Reisezeiten nicht im Dunkeln verbringen wollen.

« Menschen wollen nicht im Dunkeln reisen. »
Dr. Tobias Arnold, Verkehr und Raum beim Luzerner Beratungsunternehmen Interface

Nachhaltigkeit fraglich

«Bezieht man in Nachhaltigkeitsüberlegungen auch die ökonomische Dimension mit ein, so schneidet ein Personenverkehr im Untergrund nicht speziell gut ab», ergänzt Prof. Ueli Häfeli, Verkehrswissenschaftler bei Interface. Der Tunnelbau verschlinge enorme Summen und die Beherrschbarkeit des Bodens berge unplanbare Risikofaktoren wie beispielsweise das Eindringen in neue Sedimentschichten und die Wasserhaltung, gerade in bewohnten Gebieten. Darüber hinaus besteht die rechtlich nicht gelöste Frage, wo die unterirdische Grenze zwischen Privatbesitz und öffentlichem Eigentum verläuft. «Untergrund-Potenzial sehe ich hingegen beim ruhenden Verkehr», meint Häfeli. «Fussgänger- und Veloverkehr oben, Parkplätze unten.»

Unterirdisch parkieren und Autobahnen überdachen

Parkfelder brauchen viel Platz und sind im urbanen Umfeld als eigenständige Stadträume zu betrachten. Die Idee, sie vermehrt unter den Boden zu verlegen, ist nicht neu, hat aber noch massives Ausbaupotenzial. Eine Vorreiterrolle punkto Regulierung nimmt die Stadt Zürich ein: Ihr «historischer», innerstädtischer Parkplatzkompromiss von 1996 sieht vor, jeden Abbau eines oberirdischen Parkplatzes unterirdisch zu kompensieren. Im Jahr 2019 wurde dieser Kompromiss durch die Aufweichung der Kompensationspflicht verschärft; neu sollen oberirdische Parkplätze bis 10% unter den Stand von 1990 ohne Kompensation aufgehoben werden können. Ein weiterer Ansatz für den Gewinn von Grünflächen und Erholungsräumen sind grossräumige, begehbare Dachflächen, welche durch die Einhausung von Autobahnen entstehen. Aktuell wird dies zum Beispiel von der Stadt Kriens im Rahmen des Luzerner Autobahn-Bypasses gefordert.

Nahtlos und nah

Welche Teile der Verkehrsströme künftig auch immer in den Untergrund verlegt werden: Die möglichst nahtlose Vernetzung mit der Verkehrsinfrastruktur an der Oberfläche ist zwingend. «Schön wäre zudem, wenn sich ‹kurze Wege› als Teil einer Verkehrszukunftsvision etablieren könnten. Eine neu verstandene Quartierwelt sozusagen, wo wir für die Befriedigung unserer Bedürfnisse nicht mehr weit gehen oder fahren müssen», schliesst Verkehrsspezialist Häfeli.

Man darf gespannt sein, wie es weitergeht.

Quellen: u.a. cst.ch (Cargo Sous Terrain), energieschweiz.ch/komo

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