Einmal Realitätswechsel, bitte

Entspannst du noch oder fliehst du schon? Wir erklären dir, was es mit Eskapismus auf sich hat – und wie du erkennst, wo du selbst damit stehst.

18.10.2021

2 Stunden und 22 Minuten. So viel Zeit verbringen wir täglich im Durchschnitt auf sozialen Medien, wo wir im Schnitt 7,6 Accounts haben (Quelle: brandwatch.com). Dazu kommt das Fernsehen: Durchschnittlich zwei Stunden verbringen Herr und Frau Deutschschweizer pro Tag damit, im Tessin waren es 2020 pro Tag sogar knapp 3 Stunden (Quelle: BFS). Und bereits Kinder im Vorschulalter verbringen gemäss einer Studie von 2020 fast eineinhalb Stunden pro Tag vor Bildschirmen, nämlich 50 Minuten vor dem Fernseher, 20 Minuten vor dem Tablet, 11 Minuten am Handy und 7 Minuten beim Gamen (Quelle: statista.com). Die Medien im Allgemeinen und das Internet mit seinen Plattformen im Besonderen locken uns in andere Welten – und lenken uns ab vom Hier und Jetzt.

Was ist Eskapismus?

Schon seit Längerem wurde ein Begriff dazu geprägt: Unter dem Stichwort Eskapismus (von lateinisch excapere: entkommen) untersuchen vor allem Psychologen und Medienwissenschaftler das Phänomen der «Weltflucht» oder «Wirklichkeitsflucht». Die genauen Definitionen von Eskapismus sind verschieden. Einige davon sprechen von der «Flucht in eine Scheinwelt oder Scheinwirklichkeit», andere allgemeiner von der «Sucht nach Vergnügen und Zerstreuung». Wir meiden diese Welt also für eine Weile zugunsten einer anderen, imaginären oder möglichen besseren (Schein-)Realität.

Warum fliehen wir?

Andere Wirklichkeiten können spannend sein. Sie können Atmosphären, Figuren, Logiken und Möglichkeiten beinhalten, die es in unserer Alltagswelt nicht gibt. Manchmal ist ein Wechsel in eine andere Realität als die unmittelbare Wirklichkeit auch sehr lehrreich. Oder zumindest entspannend.

Wenn es dabei um Medienangebote geht, suchen wir uns diese gemäss dem amerikanischen Soziologen Elihu Katz gezielt aus, um kurzzeitig aus unserem Alltag auszubrechen. So können wir ihm gemäss Spannungen abbauen, Probleme vergessen, unliebsame Emotionen überdecken und andere Emotionen erzeugen. Wir können uns von der Wirklichkeit mit ihren Regeln und Normen ablenken, aber auch unerfüllte Wünsche kompensieren.

Strand und Berge in Kaffeetasse festgehalten von zwei Händen
Realitätsflucht in der Tasse

Wohin fliehen wir?

Die Universen, die uns parallel zum Hier und Jetzt zur Verfügung stehen, sind vielfältig und seit der Digitalisierung noch rasant angewachsen. Für unsere kleinen «Fluchten» nutzen wir u.a.:

  • BĂĽcher, Filme und Sendungen

  • Gaming

  • Internetsurfen

  • Social Media (TikTok, Instagram & Co. …)

Nebst diesen gängigen, allgegenwärtigen Ablenkungen gibt es natürlich noch viele weitere Möglichkeiten. Auch «Parallelwelten» in Form von Rollenspiel-Events, Cosplay, Virtual Reality usw. bieten einen Realitätswechsel an. Andere Quellen zählen bereits fast jede Art von exzessiv betriebenem Hobby als möglichen Eskapismus. Drogen und Suchtmittel stellen eine ungesunde Möglichkeit des Wirklichkeitswechsels dar. Selbst Schlaf kann als eine Strategie genutzt werden: Auch so können wir den Sorgen und Anforderungen des Alltags entfliehen.

Wann fliehen wir?

Aber was ist nun einfach Abschalten, was ist noch Ablenken und was ist schon Fliehen? Die Grenzen sind gar nicht so einfach festzustellen. Von Eskapismus spricht man in der Regel aber erst in einem Zustand der längerfristigen oder exzessiven Ablenkung.

Gerade in schwierigen Phasen neigen wir dazu, uns ablenken zu wollen. Es gibt auch seelische Gründe, die begünstigen, dass wir uns vermehrt ablenken und der Realität entziehen:

  • Wenn der Grad der Herausforderung in unserem Leben nicht fĂĽr uns stimmt (ĂśberforderungsgefĂĽhle und hoher Stress als auch starke Unterforderung bzw. Langeweile)

  • Wenn wir das GefĂĽhl haben, dass wir selbst und die Welt «nicht zusammenpassen»

  • Wenn wir unzufrieden sind, aber keine Perspektiven sehen, etwas verändern zu können

  • Nach schwerwiegenden Ereignissen, die uns seelisch und emotional ĂĽberfordern

« Ein wenig Distanz zur Realität kann also Raum fĂĽr Utopien und Visionen schaffen, die die Welt inspirieren und zu neuen Wirklichkeiten fĂĽhren können. »

Kann ein wenig Realitätsflucht nicht auch positiv sein?

Doch. Wenn eine «Weltflucht» nicht ausufert, muss das nämlich nicht zwingend bedeuten, dass man mit der Wirklichkeit nicht mehr zurechtkommt. Der norwegische Psychologe Frode Stenseng zum Beispiel unterscheidet zwei Formen der Realitätsflucht: Bei der ersten flieht jemand vor unangenehmen Gedanken oder Gefühlen wie Frustration, Selbstentwertung, Ohnmacht oder gar Trauma. Bei der zweiten aber gehe es darum, etwas Neues an sich selbst zu entdecken – wie beispielweise Utopisten oder Aussteiger, die durch einen bewussten Entscheid neue Lebensgestaltungen erforschen und dabei neue Fähigkeiten in sich selbst entdecken. Sie erweitern sich damit quasi um eine Dimension. Eskapismus, so Stenseng, könne also angewandt werden, um etwas zu unterdrücken – oder sich zu erweitern. Ein wenig Distanz zur Realität kann also Raum für Utopien und Visionen schaffen, die die Welt inspirieren und zu neuen Wirklichkeiten führen können.

Entspanne ich noch oder fliehe ich schon?

Wie viel Zeit verbringe ich pro Tag oder Woche mit meinen gängigsten Ablenkungen?

Beschäftige ich mich mehr mit ihnen als mit meinem eigenen Leben?

Was sind die Highlights meines Tages:

Dinge, die in der Realität passieren oder Dinge, die mich von ihr ablenken?

FĂĽhle ich mich erst besser, wenn ich mich ablenken kann?

Halten mich meine Ablenkungen davon ab, meine Probleme anzupacken?

Habe ich bereits negative Folgen meines Ablenkungsverhaltens erlebt?

Vernachlässige ich Freunde, Familie, meine Ziele oder Verpflichtungen?

Was in meinem Leben gefällt mir gerade nicht oder fehlt mir?

Was könnte ich im Alltag tun, um auch nur schon ein wenig glücklicher zu sein?

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