Taten statt Worte! Solidarität

Der Begriff Solidarität hat derzeit Hochkonjunktur. Doch was bedeutet er genau? Und werden wir in Krisenzeiten tatsächlich zu solidarischeren Menschen?

13.04.2022

  • Lifestyle

Schulklassen, die Kuchen für einen guten Zweck verkaufen. Freiwillige, die Hilfsgüter sammeln und diese mit Minibussen ins Krisengebiet transportieren. Familien, die spontan und unbürokratisch flüchtende Menschen in ihren Wohnungen aufnehmen. Der Ukraine-Krieg und dessen Folgen haben in den vergangenen Wochen eine riesige Welle der Solidarität ausgelöst. Die Tatsache, dass nur wenige Flugstunden entfernt ein schrecklicher Krieg geführt wird, geht auch den Schweizerinnen und Schweizern nah. Dafür spricht auch die Tatsache, dass bei der Glückskette bereits Spenden von über 107 Millionen Franken (Stand: 4. April) für die Kriegsopfer aus der Ukraine eingegangen sind.

Gemeinsam Krisen ĂĽberwinden

Der Begriff Solidarität ist jedoch nicht erst seit dem Ukraine-Krieg allgegenwärtig. Auch während der Corona-Pandemie wurde er immer wieder verwendet. Dass das Thema derzeit in aller Munde ist, überrascht Peter G. Kirchschläger nicht. Der 45-jährige Theologe leitet das Institut für Sozialethik ISE an der Universität Luzern und ist unter anderem als Berater für nationale und internationale Organisationen tätig. «Wir alle erleben Momente, in denen wir Hilfe benötigen. Auf der anderen Seite sind alle Menschen in der Lage, in bestimmten Situationen Hilfe zu leisten.» In den letzten zwei Jahren galt dies mehr denn je. «Die Corona-Krise führte uns unmissverständlich vor Augen, dass der Mensch als Einzelkämpfer allein nicht gegen das Virus und seine Folgen ankommt, sondern nur als Teil der Gesellschaft», schreibt auch Janine Seitz in der Trendstudie «Die Welt nach Corona». Schwierige Zeiten lassen sich nur gemeinsam überwinden. Diese Erkenntnis könnte auch ein Antrieb für die grosse Solidarität mit den Flüchtenden aus der Ukraine sein.

Ein wesentlicher Punkt darf laut Kirchschläger jedoch nicht vergessen werden: «Echte Solidarität schliesst immer alle Menschen ein.» Wer also einem Teil der Menschen hilft und die Bedürfnisse einer anderen Gruppe ignoriert oder Menschen ausschliesst, handelt nicht solidarisch. Als Beispiel nennt Kirchschläger die Tatsache, dass just in diesen Wochen über Menschen auf der Flucht «erster und zweiter Klasse» debattiert werde. Auch die Tatsache, dass Teile der Weltgemeinschaft bis heute keinen Zugang zum Corona-Impfstoff hätten, sei per se unsolidarisch. «Echte Solidarität ist zudem immer an konkrete Taten und Handlungen gebunden», so Kirchschläger. Symbolische Solidaritätsbekundungen – also zum Beispiel für den Frieden zu demonstrieren – seien zwar ebenfalls bedeutsam, reichten alleine aber nicht aus. «Von Solidarität kann erst gesprochen werden, wenn die Lebensbedingungen der Betroffenen tatsächlich und substanziell verbessert werden.»

Hilfsangebote sind hoch im Kurs

Obwohl in den vergangenen zwei Jahren längst nicht in allen Fragen Einigkeit herrschte und gar von einer Spaltung der Gesellschaft die Rede war, fällt Kirchschlägers Fazit grundsätzlich positiv aus. All das Leid, das durch die Pandemie ĂĽber die Gesellschaft hereingebrochen sei, habe dazu gefĂĽhrt, dass sich viele Menschen Gedanken darĂĽber machten, was fĂĽr sie wirklich zähle. «Prinzipien wie Freiheit, MenschenwĂĽrde, Menschenrechte und Demokratie sind uns wieder bewusster geworden», sagt Kirchschläger. «Der Mehrheit der Bevölkerung ist es zudem gelungen, das Sensorium fĂĽr ihr GegenĂĽber zu schärfen und zueinander Sorge zu tragen.» Viele Menschen unterstĂĽtzten sich gegenseitig – gingen zum Beispiel fĂĽr ältere und kranke Mitmenschen einkaufen. DarĂĽber hinaus wurden vielerorts organisierte UnterstĂĽtzungsangebote ins Leben gerufen: von Facebook-Gruppen wie «Basel hilft» bis hin zu Apps, die Helfer und Hilfesuchende zusammenbringen. Immer mehr Menschen scheinen bereit zu sein, aktiv ihre UnterstĂĽtzung anzubieten und sich fĂĽr die Gesellschaft zu engagieren. Laut dem Bundesamt fĂĽr Statistik leistet die Bevölkerung in der Schweiz durchschnittlich 1,6 Stunden pro Woche Freiwilligenarbeit – dazu gehört auch das Engagement in Jugendorganisationen, politischen Parteien, Sportvereinen oder der lokalen Feuerwehr.

Der Konsum verliert an Bedeutung

Die Trend- und Zukunftsforscherin Janine Seitz geht davon aus, dass die wachsende Solidarität, die sich während der Corona-Pandemie entwickelt habe, den Handel und den Konsum der Zukunft prägen werde. Die Krisenerfahrung habe ein tiefliegendes Bedürfnis nach einem bewussteren, sozialeren Genuss freigesetzt – «nicht auf Kosten anderer, sondern gemeinsam mit anderen». Dazu gehöre auch die Erkenntnis, dass ein genussvolles, erfülltes Leben nicht von der Anzahl der Konsumartikel, die man besitze oder nutze, abhänge. «Das Konsumieren um des Konsumierens willen wird daher künftig in den Hintergrund treten», meint Seitz. «Dieser neue Fokus ist Ausdruck einer Rückbesinnung auf das, was einem wirklich wichtig ist.»

Sind Mobility-Nutzer per se solidarischer?

Genau das glaubt und hofft auch Peter G. Kirchschläger. Der Luzerner Ethiker wünscht sich insbesondere ein menschenrechtsbasiertes Wirtschaften und einen nachhaltigeren Umgang mit den Ressourcen. Die Mobility Genossenschaft diene als gutes Beispiel hierfür. Auch Kirchschläger ist schliesslich bewusst, dass die meisten Autos in der Schweiz täglich durchschnittlich 23 Stunden still stehen und dass elf Privatautos so viel gefahren werden wie ein Mobility-Auto. «Das ist eine unglaubliche Verschwendung von Ressourcen.» Unter der Devise «Nicht besitzen, sondern teilen» leisteten die Nutzerinnen und Nutzer von Carsharing-Angeboten einen wertvollen Beitrag zu einer nachhaltigeren Mobilität. «Auch das ist Solidarität», betont Kirchschläger. Kommt hinzu, dass Leute, die ein Auto mit anderen teilen, meist auch vorsichtiger damit umgehen. Der nachfolgende Nutzer soll schliesslich nicht den Müll seines Vorgängers entsorgen oder das Auto aus einer mühsamen Parksituation herauszirkeln müssen.
 

Bleibt die Frage, ob die neu zelebrierte Solidarität auch langfristig überleben wird. Diese Frage sei schwer zu beantworten, sagt der Luzerner Ethiker. «Meine Hoffnung ist zumindest, dass wir als einzelne Menschen, aber auch als Gesellschaft achtsamer geworden sind.»

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